Ein anderer Blickwinkel auf den Materialismus
Einer der Beweggründe dafür, Technologie und Wissenschaft voranzutreiben, war und ist das Streben nach Bequemlichkeit. Dinge sollen uns das Leben erleichtern. Dinge sollen uns Arbeit abnehmen. Dinge sollen uns glücklich machen.
Was genau sollten all diese Dinge uns ursprünglich abnehmen? Das Denken und körperliche Anstrengung. Bezogen zum Beispiel auf die Berufsausübung: Menschen werden auf einen kleineren Bereich spezialisiert, so dass sie sich mit weniger unterschiedlichen Prozessen, dafür mit diesen intensiver befassen können. So können sie in ihrem Bereich effektiver, schneller und leistungsfähiger werden. Prozesse werden außerdem automatisiert und durch Computer und Maschinen ersetzt, sodass der Arbeitende nicht mehr so ganz genau verstehen muss, wofür er tut, was er tut. Die dadurch freigewordene Energie kann er in Geschwindigkeit seiner eigenen Arbeitsgänge umwandeln.
Ebenso nehmen Maschinen und Computer den Arbeitenden körperliche Anstrengung ab.
Wenn das Konzept aufgegangen wäre, dann müsste es in der heutigen Zeit lauter Menschen geben, die körperlich fit und gesund sind, weil sie sich nicht kaputt schuften müssen und die leicht und sorglos durchs Leben gehen, weil ihnen durch Maschinen, Vorgesetzten und festen Unternehmensstrukturen und Produktionsketten das Denken abgenommen wird.
Warum ist das Gegenteil der Fall? Warum machen Menschen sich permanent Sorgen, kommen aus ihren Gedankenspiralen und Ängsten schwerlich heraus? Warum haben viele Menschen mit Depression tun? Und was mich persönlich am meisten interessiert: Warum erkranken die vermeintlich gesund geschonten Körper an so vielen Krankheiten?
Krankheit ist immer ein Zeichen dafür, dass etwas in ein Extrem gelaufen ist wodurch etwas anderes vernachlässigt wurde. Meinem Empfinden nach ist es das Verkopfte, das ins Extrem gerannt ist und der Körper, der vernachlässigt wurde. In anderen Begriffen: Dem Virtuellen wird mehr Wert zugesprochen als dem Materiellen. Die Kopfwelt, die virtuelle Welt entfernt uns immer mehr von der Körperwelt und damit vom Materiellen.
Was genau meine ich mit Körperwelt? Woran denkst du, wenn du Körperlichkeit hörst? Berührung, Sinnlichkeit, Sex, Sport? Ja, all das ist sicherlich gemeint, aber mir geht es heute um einen Aspekt, der darüber hinausgeht, den wir gern ausklammern, weil wir ihn gar nicht in Verbindung bringen. Unser Körper ist materiell, er besteht aus Materie. Ebenso wie all die Dinge, mit denen wir uns umgeben.
Mir ist da etwas nicht so klar. Warum behandeln wir unsere Dinge, in deren Entwicklung und Potential wir so viel Zeit, Geld, Ressourcen und Gedanken investiert haben, warum behandeln wir diese Dinge, die unser Leben besser, schöner, bequemer machen sollen eigentlich so wertlos? Warum sprechen wir immer nur im negativen Sinn von Materialismus? warum sagen wir uns immer wieder, dass Dinge uns nicht glücklich machen, weil es ja nur Dinge sind, hören aber dennoch nicht auf, sie zu kaufen und wieder wegzuwerfen? Wir meinen zu wissen, dass Materialien, also Dinge, schlecht für uns sind und uns nicht glücklich machen, produzieren aber immer mehr davon und können und wollen ja auch irgendwie nicht ganz ohne leben. Es scheint mir wie so eine Hassliebe zwischen uns Menschen und den Dingen. Niemand möchte auf sein Auto oder sein Handy verzichten, aber die „wichtigen Werte des Lebens“ finden wir natürlich nicht darin, das wissen wir und wir haben auch schön brav immer mal wieder kurz ein schlechtes Gewissen, wenn wir das 200ste Mal am Tag zum Handy greifen, ohne, dass uns dieser Griff Erfüllung schenkt oder wenn wir zum Brötchen kaufen schon wieder das Auto nehmen, obwohl wir uns doch fest vorgenommen hatten, unnötige Fahrten zu vermeiden und beim nächsten Mal zu Fuß zu gehen.
Diese Dinge, die uns das Leben schöner machen sollen, wie behandeln wir sie eigentlich? Durch den Überfluss an Dingen kombiniert mit unserem schlechten Gewissen der Erde gegenüber sprechen wir ihnen ihren Wert ab, anstatt sie zu wertschätzen. Den Wert von Dingen jedoch runterzuspielen, ist meinem Empfinden nach nicht der richtige Ansatz, um dem Negativ-Materialismus – der Verschwendung, dem Überfluss – entgegenzuwirken. Da die Dinge nun einmal da sind und offensichtlich einige davon auch sinnvoll sind und gebraucht werden, wie wäre es, ihnen mehr Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenzubringen, die Gegenstände gerne und mit Freude in die Hand zu nehmen, sich immer wieder bewusst mit ihnen zu verbinden?
Menschen, die sagen, Dinge sind ihnen nicht wichtig, auf die wahren Werte im Leben kommt es an, verfolgen im Kern einen Ansatz, den wir heute unbedingt brauchen, aber er ist meiner Meinung nach nicht zu Ende gedacht. Die „wahren Werte“ beziehen sich vielleicht auf das Zwischenmenschliche, auf die Liebe, auf Respekt usw., aber sie sollten auch das Materielle mit einbeziehen, denn es wird an irgendeiner Stelle immer mit ins Spiel kommen. Egal, ob es sich um eine Freundschaft, Partnerschaft oder Geschäftsbeziehung handelt.
Unser Körper ist Material. Das Wertvollste Material, die wertvollste Ressource, die wir besitzen. Fangen wir bei ihm mit der Wertschätzung an, so können wir nicht nur anderen Menschen mehr Wertschätzung entgegenbringen, sondern auch den Dingen, mit denen wir uns umgeben.
Durch die Wertschätzung von Dingen wertschätzen wir auch die Erde und ihre Ressourcen.
Und diese Wertschätzung kann noch viel tiefer gehen:
Das Problem der Verschwendung und Kaufsucht könnte an der Wurzel gepackt werden. Wenn wir uns trauen, Dinge nicht wichtiger, aber doch ähnlich wichtig zu nehmen, wie Menschen, dann ist daran nichts Schlimmes, im Gegenteil: Wir wertschätzen einen Menschen, indem wir ihm unsere Zeit und Aufmerksamkeit schenken, uns mit ihm beschäftigen. Dadurch, dass wir ihm Zeit und Aufmerksamkeit schenken, bauen wir eine emotionale Bindung zu dem Menschen auf. Da emotionale Bindungen sehr erfüllend und einnehmend sein können, haben wir in der Regel eine begrenzte Anzahl an Menschen in unserem Leben, zu denen wir eine solche Bindung erleben. Viele Menschen sagen zum Beispiel, sie hätten nicht viele Freunde und denken, das wäre etwas Schlechtes. Aber häufig ist das Gegenteil der Fall, die wenigen Freundschaften, die sie haben, sind dafür intensiv und schön, werden gepflegt und sind bereichernd. Wenn eine Verbindung zu einem einzelnen Menschen intensiv und immer wieder wach gepflegt wird, dann braucht es keine weiteren 100 Verbindungen zu 100 anderen Menschen, denn diese eine Verbindung ist nährend und bereichernd, macht zufrieden und glücklich.
Ebenso können wir einen Gegenstand wertschätzen und ihm und der Sache, die wir mit ihm ausführen, unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Wir widmen ihm Zeit und Aufmerksamkeit, verbinden uns mit ihm und merken, dass wir für seinen Zweck gerade nur diesen einen Gegenstand brauchen und keine 100 weitere.
Warum sollte uns ein Gegenstand nicht glücklich machen können? Ebenso wie es nicht die Aufgabe eines anderen Menschen ist, uns glücklich zu machen, ist es nicht die Aufgabe eines Gegenstands, dies zu tun, aber unsere Art, mit ihm umzugehen entscheidet darüber, ob und für wie lange er uns zufriedenstellt, dient und glücklich macht.
Verfasst am 04.05.2021